Die Inklusion von Personen mit Einschränkungen in die digitale Welt ist eine Herzensangelegenheit nicht nur unseres Frontend-Entwicklers Florian. In naher Zukunft betrifft barrierefreie Gestaltung alle Betreiber von digitalen Applikationen – auch Wirtschaftsunternehmen. Mit der „Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung - BITV 2.0“ für öffentliche Stellen besteht bereits heute eine gesetzliche Vorschrift, moderne Informations- und Kommunikationstechnik im öffentlichen Sektor umfassend und grundsätzlich uneingeschränkt barrierefrei zu gestalten. Diese Einschränkung auf den öffentlichen Bereich fällt ab 2025 weg.
Vor wenigen Tagen wurde das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) verabschiedet, das festlegt, bestimmte Produkte und Dienstleistungen ab 28.06.2025 so zu gestalten und herzustellen, dass Menschen mit Behinderungen sie maximal nutzen können. Mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland werden sich über diese Nachricht freuen. Tendenz steigend. Speziell für die zahlreichen Hochschulen und öffentlichen Institutionen, deren Websites die München betreut, ist es auch schon jetzt ein Muss, textuelle und nicht textuelle Informationen sowie Interaktionen und integrierte Inhalte wie Video- und Audiodateien, Formulare, Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozesse für Menschen mit Seh- und Hörbehinderungen sowie anderen motorischen und kognitiven Einschränkungen zugänglich zu machen.
Florian schildert im folgenden Interview, warum ihm als Frontend-Entwickler Barrierefreiheit so sehr am Herzen liegt und warum es sich grundsätzlich lohnt, über barrierefreie Websites nachzudenken.
Florian, gibt es ein Schlüsselerlebnis für Dein großes Engagement in Sachen digitaler Barrierefreiheit?
Obwohl ich meine erste Webseite schon 1997 umgesetzt habe, bin ich erst spät auf das Thema Web-Barrierefreiheit gestoßen. Aber als ich mich darin eingelesen hatte, ist mir ein Licht aufgegangen! Vieles an den technischen Aspekten von HTML, CSS and JavaScript macht erst dann richtig Sinn, wenn man eine Webseite nicht nur visuell betrachtet. Sondern als Kommunikationsträger für alle – egal ob jemand sie sehend, hörend oder mit dem Tastsinn (Braille) erlebt. Und egal ob der User Maus, Tastatur, Touch- oder Spracheingabe verwendet. Diese Erkenntnis war das fehlende Puzzleteil zu meinem Verständnis von Webtechnologien.
Du hast uns berichtet, dass Du bei Sprint-Präsentationen jeweils vier „Versionen“ einer Benutzeroberfläche zeigst. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Seit Ethan Marcotte 2010 den Begriff „Responsive Webdesign“ geprägt hat, ist es üblich, mindestens eine Mobil- und eine Desktopansicht aller Seiten zu entwerfen. Am Ende eines agilen Sprints präsentieren wir im sog. Review die Umsetzung dieser Designs. Wir haben diese Präsentation seit einiger Zeit erweitert und zeigen nicht nur Mobil- und Desktop-Ansicht, sondern demonstrieren auch, wie sich die Webseite für einen blinden Nutzer anhört und wie sie nur mit der Tastatur bedient werden kann. Diese Perspektivenwechsel sind für Kunden oft besonders interessant, weil sie selbst meist weniger Erfahrung mit Screenreadern oder mit der Steuerung ausschließlich per Tastatur haben.
Auf welche Aspekte musst Du denn besonders achten, wenn Du das Interface gestaltest und die Interaktionen anlegst?
Wenn ich mit einem inklusiven Design-Verständnis entwickle, dann ist nicht nur die visuelle Oberfläche wichtig, sondern auch die technische Struktur darunter. Eine Überschrift muss demzufolge nicht nur groß genug sein, damit sie sich vom Fließtext deutlich abhebt. Sondern sie muss auch semantisch als Überschrift ausgezeichnet sein. Erst dann kann beispielsweise ein Screenreader darauf zugreifen und sich ein blinder Nutzer oder eine blinde Nutzerin daran orientieren, um sich innerhalb einer Seite zurecht zu finden.
Einige der Team-Kollegen hatten vor wenigen Wochen die einzigartige Gelegenheit, eine sehbehinderte Expertin für digitale Barrierefreiheit im Umgang mit einem Screenreader zu erleben. Anlass war ein Vortrag des Thüringer Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderungen, Enrico Göbel, zum Thema: "Sehbehinderte und Nutzung des Internets/Webs" im Rahmen des Pluscamps im Mai dieses Jahres. Für die Beobachter und Beobachterinnen war es eine emotionale Erfahrung hautnah mitzuerleben, welche immensen Herausforderungen eine sehbehinderte Person meistern muss, um in einer Website zu navigieren und sie zu verstehen.
Florian, für Dich als Entwickler ist es aber sicherlich auch eine Herausforderung, alle notwendigen Features zu berücksichtigen. Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich dabei für Dich?
Manche Anforderungen, wie ausreichende Farbkontraste oder alternative Bildbeschreibungen, können halb-automatisiert getestet werden. Bei interaktiven Features wie Formularen oder Navigations-Elementen geht das nicht. Da muss ich selbst die Augen schließen, den Screenreader einschalten und probieren: Weiß ich aufgrund der Ansagen, wo ich mich befinde? Gibt es Menüpunkte, die ich mit der Tastatur nicht erreichen kann? Gibt es Kontext-Informationen, die sich für einen sehenden Benutzer erschließen, die mir hörend dagegen fehlen? Einmal gefunden, kann ich diese möglichen Hindernisse dann meist schnell aus dem Weg räumen.
Du bist der Meinung, dass es sich für manches Unternehmen auch jetzt schon lohnen kann, in digitale Barrierefreiheit zu investieren – besonders, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Menschen betroffen sind. Man geht in Deutschland von mindestens 150.000 blinden und 500.000 sehbehinderten Menschen aus. Darüber hinaus hat man begonnen weiterzudenken: Es gibt zahlreiche Situationen im Leben, in denen im Grunde jede Person von einer barrierefreien Seite profitieren könnte. Für welche Unternehmen lohnt es sich Deiner Meinung nach?
In Barrierefreiheit zu investieren, lohnt sich in jedem Fall, denn im Grunde geht es um die Qualität des Nutzererlebnisses für alle Besucher – ob permanent, temporär oder situativ eingeschränkt. Wenn man beispielsweise Personen mit gebrochener Hand, Kindern auf dem Arm, Gepäck in der Hand oder Menschen mit Ohrentzündungen bzw. in lauten Umgebungen mitberücksichtigt, profitiert eine noch wesentlich größere Zielgruppe von digitaler Barrierefreiheit. Wenn die Farbkontraste für NutzerInnen mit Sehbeeinträchtigungen hoch genug sind, dann ist die Schrift auch auf einem spiegelnden Handydisplay in der Sonne besser lesbar. Wenn ein Video mit einem textlich relevanten Kontext Untertitel für höreingeschränkte Personen ausspielt, sorgt es auch in der vollbesetzten U-Bahn ohne Kopfhörer für Durchblick.
Für Betreiber, Konzeptioner, Designer und Entwickler von digitalen Applikationen ist es wichtig, Barrierefreiheit von Beginn an mitzudenken. Ein „Barrierefreiheit-First“-Ansatz sorgt bereits in der Konzeptphase für eine optimale Navigation und Gestaltung und beugt Nachbesserungen vor. Das ist ganz ähnlich wie in der Architektur: wenn die Barrierefreiheit von Anfang an mitgedacht wird, plane ich nicht Stufen mit einer Rollstuhl-Rampe daneben, sondern einen ebenerdigen Eingang. Und der hilft mir dann auch, wenn ich mit Kinderwagen komme.
Vielen Dank Florian für diese ungewöhnlichen Einblicke, die zum Nachdenken und Nachmachen animieren.
Deutschlands erstes Test.Labor Barrierefreiheit
Welche Aktualität das Thema Digitale Barrierefreiheit genießt, zeigt auch das große Interesse anlässlich der Einweihung des Test.Labor Barrierefreiheit als Teil der Werkstatt der Pfennigparade in München. Mitarbeitern der Pfennigparade zufolge gibt es inzwischen eine Flut von Unternehmens-Anfragen.